Was ist “bewusste Inkompetenz”?
In jedem Lernprozess gibt es diese schwierige Phase, wenn man die ersten Lektionen geschafft und eine gewisse Übung und Sicherheit erlangt hat, sich aber statt der großen Erleichterung zunächst Verwirrung und Frust einstellen. So auch beim Sprachenlernen. Plötzlich bemerkt man die eigenen Fehler, und wenn man Sprechen oder Schreiben möchte, fehlen überall wichtige Vokabeln.
Meinen Teilnehmenden sage ich dann oft mit einem Lächeln: “Super! Du hast eine neue bewusste Inkompetenz erreicht!” Allein der Überraschungseffekt des Begriffs hebt dann schon mal die Stimmung, während mich gleichzeitig alle gespannt anschauen: Bewusste Inkompetenz? Was bedeutet das?!
Ausgangspunkt: Un-bewusste Inkompetenz
Die Phase der unbewussten Inkompetenz haben wir natürlich bereits in dem Moment hinter uns gelassen, in dem wir uns entschließen, eine neue Sprache (oder etwas anderes) zu lernen.
Wir werden uns bewusst, dass uns etwas Wichtiges an Kenntnissen fehlt, und wollen das ändern. Damit begeben wir uns in einen Prozess des Lernens, der eine Art Dauerschleife aus bewusster Kompetenz und weiterer unbewusster Inkompetenz ist, bis wir mit dem neuen Wissen richtig gefestigt sind.
Erste Schritte: Bewusste Kompetenz
Wenn man eine neue Sprache (oder irgendetwas anderes Neues) lernt, bewegt man sich zunächst und für eine mehr oder weniger lange Zeit im Bereich der “bewussten Kompetenz”. Man hat die ersten Wörter, Sätze und Regeln gelernt und wendet sie - so gut wie möglich - an.
Es ist eine wunderbare Phase voller neuer Entdeckungen und Erfolgserlebnisse, in der man sich über jede Sprachhandlung freut, die irgendwie gelingt. Man ist so stolz, in bestimmten Situationen mit der neuen Sprache agieren zu können, dass man die Grenzen des möglichen Handelns gar nicht wahrnehmen kann.
Springen und Fallen: bewusste Inkompetenz
Für mich als Lehrkraft ist es ein spannender Moment, wenn diese Grenzen dann doch wahrgenommen werden. Denn während die Teilnehmenden hier oft der Meinung sind, dass sie keine Fortschritte mehr machen, sehe ich gerade in dieser Phase, wie das Gehirn mit dem Lernen beschäftigt ist!
Warum können wir eigene Fehler hören? Weil wie die Regeln so sehr verinnerlicht haben, dass uns Abweichungen sofort auffallen! Warum fehlen uns die Vokabeln? Weil wir inzwischen so viel kommunizieren können, dass sich unser Horizont möglicher Sprechakte in der fremden Sprache erweitert! Wir werden Teil größerer Unerhaltungen und trauen uns, Dinge ausdrücken, die vorher außerhalb unserer Möglichkeiten waren.
Natürlich fehlen uns dann Vokabeln, und unsere Satzstrukturen erscheinen uns amateurhaft und simpel. Aber genau darin zeigt sich, dass wir bereit sind, den nächsten Schritt des Lernens zu gehen!
Wenn wir das tun, beginnt eine neue Phase der bewussten Kompetenz, die natürlich auch wieder an ihre Grenzen stoßen wird, aber die gute Nachricht ist, dass wir uns nicht im Kreis drehen, sondern in der Spirale nach oben.
Jetzt kann ich’s: Unbewusste Inkompetenz
Zum Glück bleibt neues Wissen nicht ewig neu, sondern wird irgendwann normal.
Wir sind uns dann so sicher, dass wir einfach handeln, ohne uns dessen bewusst zu sein, welche Fähigkeiten dabei zum Einsatz kommen. Das unbewusste Kompetenz, die höchste Stufe des Lernens.
Im Bezug auf Sprachen ist damit allerdings nicht (nur) das verhandlungssichere, muttersprachliche Sprachniveau gemeint, sondern jede Kompetenz, die man sicher beherrscht.
Fun Fact: Der kürzeste Golfer-Sprach-Witz
Übrigens gilt der Satz “Jetzt kann ich’s.” unter Golfern als der kürzeste Witz, denn es scheint ein bekannter Fakt zu sein, dass es immer Situationen gibt, in denen es eben auch nicht klappt. Wie in der Sprache, die sich ja genauso weiterentwickelt wie wir selbst. Fehler werden seltener, aber sie kommen vor, und das ist okay.